Der unscheinbare Freund

Unsere Geschichte spielt in der kleinen beschaulichen Stadt Freiburg im Breisgau. Die 215.000-Seelen-Stadt liegt weit im Südwesten Deutschlands. Hier lebte Thomas, ein ganz gewöhnlicher Freiburger. Er war hier aufgewachsen und nie weggezogen. Hatte an der Universität in Freiburg VWL studiert und arbeitete jetzt für die Stadt. Freunde hatte er nicht viele, da aus seiner Schulzeit so gut wie alle Freiburg verlassen hatten, um an anderen Orten ihr Glück zu versuchen. Wenn man Thomas zum Thema Frauen befragt hätte, hätte er nur traurig den Kopf geschüttelt, denn in dieser Hinsicht war Thomas nie sehr erfolgreich gewesen. Aber Thomas hatte auch Dinge, die er gern und regelmäßig tat. Dazu gehörten die regelmäßigen Besuche des SC Freiburg bei Heimspielen und ganz besonderes jeden Freitag Abend den Irish Pub am Münsterplatz zu besuchen. Genau an so einem Freitagabend beginnt unsere Geschichte.

Thomas hatte sich direkt auf seinen Stammplatz am Tresen gesetzt und hatte sich gerade ein Bier bestellt, da klopfte ihm jemand auf die Schulter und fragte ihn mit krächzender Stimme: „Ist der Platz neben ihnen noch frei?“ Ohne auch nur aufzuschauen antwortete Thomas: „Aber natürlich, setzen sie sich nur hin.“ So etwas erlebte Thomas oft. Er wusste daher, dass er nicht der einzige war, der sich freitagabends alleine fühlte. Er schielte kurz auf seinen neuen Sitznachbarn. Ihm fiel sofort die seltsame Kleidung auf, wirklich viel erkennen konnte er aber durch den kurzen Blick nicht. Der Sitznachbar von Thomas hatte einen langen schwarzen Mantel an, dazu eine Sonnenbrille und langes blondes Haar, das er zu einem Zopf nach hinten gebunden hatte. „Guten Abend, was möchten sie denn bitte trinken?“, fragte der Kellner den merkwürdigen Neuankömmling. Wieder erklang die krächzende Stimme des Fremden „ein stilles Wasser, bitte.“ Was soll denn das, überlegte Thomas, wer bitte kommt alleine hier her, um sich dann ein stilles Wasser zu bestellen? Thomas hatte nämlich bestimmte Gründe, warum er jeden Freitag hier saß. Erstens wollte er an einem Freitagabend nicht alleine sein und zweitens hatte er die Hoffnung irgendwann eine Frau zu finden immer noch nicht aufgegeben. Nachdem der Fremde einige Schlucke aus seinem Glas genommen hatte, blickte er immer wieder in Richtung Thomas. Dieser hielt dies anfangs für einfache Neugier. Doch je mehr Zeit verging, umso unheimlicher wurde es ihm. Schließlich fragte ihn der Fremde dann anscheinend mit völlig neuer, geradezu jung klingender Stimme, „Kann es sein, dass du Thomas heißt?“ Thomas zuckte deutlich zusammen. Woher wusste der Fremde nur seinen Namen? Da der Fremde vergeblich auf eine Antwort wartete, sprach er weiter: „Ich glaube, wir haben zusammen unser Abitur gemacht. Ich heiße Moritz, kannst du dich daran noch erinnern?“ Jetzt war Thomas buchstäblich die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Als er sich vom ersten Schock erholt hatte, blickte er den Fremden, der wohl den Namen Moritz trug, genauer an. Er versuchte ihn sich ohne Mantel und Sonnenbrille vorzustellen und fand auch langsam gewisse Ähnlichkeiten mit seinem damaligen Schulkameraden. Doch so wirklich glauben konnte er es immer noch nicht, er sah so viel älter aus. Ein eingefallenes Gesicht überzogen mit Falten, zumindest der Teil, der nicht von der Sonnenbrille verdeckt war. Auch die Hand, die sich an dem Glas mit stillem Wasser festhielt, schien eher die eines Greises zu sein. „Ja, ich kann mich noch an dich erinnern, du hast dich ja kaum verändert,“ log er Moritz an, der diese Äußerung mit einem freudigen Lächeln quittierte. Die Zwei kamen dann aber trotz den anfänglichen Schwierigkeiten schnell ins Gespräch und Thomas wurde sich immer sicherer, dass er da Moritz vor sich hatte. Doch der schien immer wieder Fragen auszuweichen, was er denn nach der Schule so getrieben hatte. So begann sich Thomas während des Gespräches die wildesten Theorien auszudenken. Vielleicht war er obdachlos oder Drogenhängig gewesen, fragte sich Thomas. Dann nahm ihr Gespräch jedoch eine seltsame Wendung. „Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Willst du nicht raus aus deinem langweiligen, eintönigen Leben? Du könntest frei sein, tun und lassen was du willst. Du kannst Frauen haben, welchen Typ du auch gerade haben willst. In der ganzen Welt herumreisen. Du müsstest nur eins dafür tun: Dein altes Leben komplett aufgeben. Na, wie sieht es aus?“ fragte ihn Moritz. Völlig fassungslos, ohne wirklich zu wissen, was er hierauf antworten sollte, starrte Thomas Moritz in die Sonnenbrille. Diese Frage war sehr überraschend gekommen und hatte Thomas aus dem Konzept geworfen. Irgendwann schien Moritz zu bemerkten, dass er Thomas mit der Frage so sehr verwirrt hatte, dass er keine Antwort mehr erwarten konnte. So warf er schnell ein, wahrscheinlich um auch sich selbst aus dieser verwirrenden Situation zu retten, „Wir können uns ja nächste Woche wieder hier treffen. Etwa wieder um diese Uhrzeit. Überlege es dir aber wirklich gut, es gibt danach kein zurück mehr.“ Er legte noch eine Visitenkarte, die er aus der Manteltasche zog, vor Moritz auf den Tresen und verschwand so schnell wie er erschienen war aus dem Pub.

Verdammt, dachte Moritz, während er die Wendeltreppe aus dem Pub nach oben stieg, so hatte ich die ganze Aktion eigentlich nicht geplant. Ich wollte ihn etwas langsamer auf die Frage vorbereiten, doch so wie es jetzt gelaufen war, würde er niemals einwilligen. Er hatte sich so sehr einen Begleiter auf seinem endlosen Weg gewünscht. Als er die kalte Nachtluft auf den freien Hautstellen seines Körpers spürte, kam wieder Leben in ihn und er verschwand lautlos in die Freiburger Nacht.

Immer noch an der Bar sitzend, schaute Thomas mit leerem Blick auf sein Bierglas. Was war da eben nur in Moritz gefahren, überlegte er. Thomas zahlte, ohne sein letztes Bier noch leer zu trinken und stand auf. Auch er musste die Wendeltreppe nach oben benutzen, um aus dem Pub zu gelangen. Er tat dies allerdings sehr viel schwerfälliger als Moritz. Er spürte bereits den Alkohol, den er heute zu sich genommen hatte. Aber die Kälte im Freien spürte er, dank des Alkohols, nicht so extrem. Er wankte über den Münsterplatz, doch spürte er einen steten Blick auf sich. Er blieb mitten auf dem Platz stehen und blickte sich um. Da fiel sein Blick nach oben auf einen Wasserspeier am Münster: dort waren zwei rot leuchtenden Punkte, die wie Augen aussahen. Er rieb sich verwirrt die Augen und blickte wieder nach oben, doch die beiden Punkte waren verschwunden. Das nächste Mal darf ich nicht so viel trinken, nahm er sich fest entschlossen vor. So setzte er wankend seinen Weg nach Hause fort.

Das restliche Wochenende versuchte Thomas die Gedanken an den vergangenen Freitag zu verdrängen. Alles, was er tat, hatte den Grundsatz ‚Hauptsache nicht an Freitagabend denken‘. Doch wahrscheinlich gerade durch diese vergeblichen Versuche, dachte er sehr oft an das Angebot seines alten Schulkameraden. Als er am Montag dann aber an seinem Arbeitsplatz saß, wurde der Gedanke an das Angebot so übermächtig, dass er die Entscheidung nicht länger hinausschieben konnte. Er nahm den Hörer seines Diensttelefons in die Hand und begann die Nummer zu wählen, die auf der Visitenkarte von Moritz stand. Unter großer Anspannung saß Thomas am Hörer und lauschte dem Freizeichen. Doch nichts tat sich. So verlegte er seinen Anruf erst einmal und widmete sich den restlichen Tag wieder seiner Arbeit. Abends war er sich dann schon nicht mehr sicher über seine Entscheidung und so verschob er den Anruf auf den nächsten Morgen.

Thomas saß am nächsten Morgen am Frühstückstisch, als ihm die Titelseite der lokalen Tageszeitung ins Auge fiel. Eine junge blonde Schönheit lächelte ihn von dort aus an. Unter dem Foto stand in großen Buchstaben „19 jährige Susanne vermisst“. Was für ein Mensch verschleppt denn so ein hübsches junges Mädchen, grübelte Thomas über dem Bild. Doch bereits auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle hatte er die Nachricht vom Morgen wieder vergessen.

Im Verlauf der restlichen Woche wechselte seine Meinung, ob er das von Moritz gemachte Angebot annehmen sollte oder nicht, je nach Gemütslage. Wenn er gerade der Meinung war es wäre richtig, das Angebot anzunehmen, was immer tagsüber während seiner eintönigen Arbeit der Fall war, schien Moritz nie an sein Handy zu gehen. So vergingen die Tage der Woche in ihrem eigentlichen normalen und streng strukturierten Ablauf.

Bis es schließlich wieder Freitagabend war. Thomas war den ganzen Tag sehr nervös gewesen und hatte nicht viel zustande bekommen. Er war sich auch noch nicht sicher, ob es gut war, heute Abend in den Pub zu gehen. Schließlich hatte er sich noch immer nicht entschieden, ob er das Angebot annehmen sollte oder eben nicht.

Aber letzten Endes saß er dann doch am Tresen und hatte sich bereits ein Bier bestellt. „War heute schon der unheimliche Kerl von letzter Woche da?“, fragte Thomas den Barkeeper. Dieser ignorierte seine Frage und warf ihm einen Blick zu, der so viel wie ‚stell keine weiteren Fragen‘ bedeuten sollte. Er war bereits beim dritten Bier, als sich endlich jemand mit Sonnenbrille und langem Mantel neben ihn setzte. Doch der neue Nebenmann sah äußerlich jünger als der Moritz von letzter Woche aus. Die Hand war ohne Falten und auch die sichtbaren Stellen im Gesicht strahlten etwas sehr Junges und Frisches aus. „Hallo Thomas,“ sprach er ihn auf einmal mit einer fremden, aber jungen Stimme an. Jetzt blickte Thomas etwas genauer auf den Sprecher. Er musste sich selbst eingestehen, er sah jetzt mehr Ähnlichkeiten zu seinem alten Klassenkameraden als es noch letzte Woche der Fall war. Thomas huschte ein erleichtertes Lächeln übers Gesicht, als er seinen alten Freund wieder erkannte. „Hast du dich entschieden?“, fragte ihn Moritz. Jetzt trat eine bedrückende Stille am Tresen ein, die nur ab und zu durch das laute Lachen eines anderen Gastes in der Kneipe durchbrochen wurde. Nach einigen Minuten, in denen Thomas in Gedanken noch einmal schwer mit sich gekämpft hatte, brachte Thomas ein mit trockener Stimme gesprochenes, „Ja, ich mach es,“ hervor. „Ok,“ sprach Moritz in völligem Enthusiasmus, „dann lass uns gehen.“ Thomas trank das restliche Bier mit einem Schluck aus und stand auf. Die beiden verließen den Pub auf der Wendeltreppe nach oben. Der Barkeeper schaute den beiden nur kopfschüttelnd hinterher.

Moritz schien genau zu wissen, wo er hin wollte. Er hatte eine schnelle Gangart und führte Thomas hinter das hell erleuchtete Münster in eine Seitengasse. Mit einem schrillen Laut aus dem Mund von Moritz verloschen die wenigen Straßenlichter  in der Gasse und es herrschte eine bedrückende Dunkelheit, nur die Sterne und der Mond warfen noch etwas Licht in die Gasse. Thomas bekam Gänsehaut und war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er sah dank des Sternenlichts wie Moritz seine Sonnenbrille abnahm. Doch was darunter zum Vorschein kam, gefiel Thomas überhaupt nicht. Es waren die roten Augen, die er letzte Woche bei dem Wasserspeier gesehen hatte. „Was bist Du?“ fragte Thomas mit zitternder Stimme. „Ihr bezeichnet uns als Vampire“, antwortete er mit ähnlich schriller Stimme, mit der er vorher bereits das Licht ausgeschaltet hatte, die jetzt aber Ruhe und Gelassenheit vermittelte. Doch bevor Thomas seine nächste Frage stellen konnte, hörte er ein lautes Aufschlagen hinter sich. Er drehte sich schnell um. Dort stand eine junge Frau, die ihn anzulächeln schien. Auch sie hatte die roten Augen, doch beim Lächeln fielen ihm die spitzen Zähne auf. Erst dann bemerkte er, dass er dieses Mädchen schon einmal irgendwo gesehen hatte. Aber natürlich, schoss es ihm in den Kopf, sie war das vermisste Mädchen aus der Zeitung. „Gefällt dir Deine Braut,“ fragte Moritz, der sich inzwischen neben ihn gestellt hatte. „Du musst dich nur noch beißen lassen und um gleich deine Frage zu beantworten ‚nein, es tut nicht weh‘ “. „Und was ist, wenn ich nicht will?“, fragte Thomas. Moritz warf ihm ein Lächeln zu, welches ihm diese Frage beantwortete. Er hatte also keine Wahl, überlegte Thomas, aber was habe ich denn schon noch zu verlieren und hübsch ist die Kleine ja auch. Doch mit etwas weniger entschlossener Stimme, als eben noch in seinen Gedanken, stimmte er zu. Susanne bewegte sich langsam auf ihn zu gab ihm einen langen Kuss auf die Lippen und legte dann sanft seinen Kopf zur Seite. Er spürte von dem Biss wirklich nichts, er bemerkte es erst, als das noch warme Blut über seinen Hals und dann seine Brust Richtung Boden lief. Susanne ließ wieder von ihm ab und lächelte ihn mit Blut verschmiertem Mund an. Selbst jetzt empfand er so etwas wie Zuneigung für das Mädchen. Thomas spürte sofort die neue Kraft in seinem Körper und auch das Verlangen nach Blut schien jetzt in ihm zu pochen. Die Dunkelheit um ihn herum wich und er nahm alles viel heller war.

„Lass uns verschwinden“, die Worte von Moritz durchbrachen die Ekstase in der Thomas immer noch schwebte. Die Drei verschwanden in die Nacht und Thomas begann ein neues Leben, mit anderen Regeln und neuen Zwängen.

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